Kunst und Erkenntnis im psychoästhetischen Gestaltungsprozess des TUANIMA-Psychotests von Heinrich Reich.

„Wir entdecken nicht nur durch unsere Sprache die Welt,
sondern wir verstehen unsere Symbole immer besser
und schätzen sie fortschreitend im Lichte
unserer wachsenden Erfahrung neu ein.“

Nelson Goodman


Wie weit ist künstlerische Gestaltung noetische Leistung und inwiefern sind tiefere Schichten daran beteiligt? Gibt es so etwas wie Leitbilder der Gestaltung, Urformen der Tiefenpsyche entsprechend den Jungschen Archetypen, die als Projektionen die bewussten Akte der Gestaltung überlagern und modulieren? „Nach Jung ist ein Archetyp eine Art Schema, welches im kollektiven Unbewussten verwurzelt ist und durch Symbole manifest wird.“ Walter Gropius als Architekt von Weltrang ist solchen Fragen nachgegangen und legt seine Erfahrungen dar unter dem Titel „Gibt es eine Wissenschaft der Gestaltung?“ und veranschaulicht anhand von einigen charakteristischen optischen Täuschungen, dass der physische Sehvorgang eine psychische Korrektur erfährt. So werden bestimmte Vorstellungen von einer Sache auf einen visuellen Eindruck projiziert und dieser damit subjektiv abgewandelt. Gropius leitet aus diesen Erscheinungen die These ab, „…dass künstlerische Schöpfung ihr Leben aus der Spannung zieht, die ständig durch die Wechselwirkung zwischen den bewussten und unbewussten Kräften unserer Existenz entsteht“: Welcher Art diese unbewussten Kräfte sind, bleibt dabei offen, und Gropius beschäftigt sich des Weiteren mit Mitteln einer optischen Kultur.

In Entsprechung dazu geht Max Lüscher in der Begründung seines Farbentests von der „Farberscheinung als Veranlassung für das Erlebnis des Subjekts“ aus und betrachtet dabei im Wesentlichen das erlebende Subjekt. Lüscher grenzt ab zwischen der Psychologie, die untersucht, was jemand bei einer bestimmten Farbe erlebt und dem Interesse der Ästhetik, wie die Farben zueinander in Beziehung gesetzt werden. Dabei bemüht sich Lüscher zunächst um die Klärung der objektiven Bedeutung bestimmter Farben, um daraus die psychische Beziehung des Individuums zum Objekt ableiten zu können. Für die Praxis des Farbentests folgert Lüscher schließlich: „Da jeder Farbwert eine objektiv bestimmbare Eigenart, und jede Versuchsperson in der Beziehung zu einem Farbwert ebenfalls eine bestimmte subjektive Eigenart besitzt, so kann in der objektiv bestimmten Eigenart der Farbe, die von der Versuchsperson als sympathisch empfunden wird, ein Hinweis auf die subjektive Eigenart der Versuchsperson abgelesen werden.“ d.h. im Charakter der als sympathisch gewählten Farbe äußert sich Charakteristisches der Versuchsperson. Indessen haben sich experimentierende Maler wie Kandinsky und Klee sehr um eine wissenschaftliche Begründung ihrer Versuche bemüht. Wenn Hans Sedlmayr die moderne Kunst aus dem „Verlust der Mitte“ entstanden bewertet und das Ursprüngliche in der Kunst bei den Ungeübten und Nichtakademikern sucht, weist er mit dieser Kritik in eine Richtung, die der modernen Kunst doch eine Bedeutung zuspricht. Vielleicht gibt die von den Impressionisten empfundene Notwendigkeit, das Innenbild über das Außenbild zu stellen, einen Hinweis für das Verständnis ihrer Formensprache.


Der Reich-Test

Dr.med. Heinrich Reich unternahm in einer Art Selbstversenkungshypnoid den Versuch Symbole (Anima, Animus …) in gegenstandslosen Farb-Form-Bildnereien darzustellen. So entstanden 160 Seelenbilder aus denen im Verlauf einiger Jahre 36 ausgesondert wurden, die sich in verschiedenen Versuchsreihen besonders bewährt hatten und von denen angenommen wurde, dass eine befriedigende Korrespondenz zwischen Bild und Symbol besteht. Dr. Heinrich Reich (1888–1961) hat sich in sehr vielseitiger Weise bemerkbar gemacht. So veröffentlichte er als Arzt (er war bis 1945 als Röntgenfacharzt tätig) in Fachzeitschriften für Neurologie und Psychiatrie diverse Artikel, als auch ein Buch mit dem Titel „Grundlagen und neue Wege der Strahlenbehandlung“. In psychologischen Zeitschriften veröffentlichte er vornehmlich Artikel über Entstehung und Handhabung sowie praktische Erfahrungen mit dem Tuanima-Test, als auch Beiträge über experimentelle Malerei. Nebenbei betätigte er sich auch als Aphorismen Schriftsteller („Menschenleben zwischen Herz und Hirn“)8 sowie als Komponist. Im Umfeld seines Studiums der Jung‘schen Psychologie und der Archetypen betätigte er sich auch als Astrologe.10 Als Maler schuf er neben seinen Beiträgen zur experimentellen Malerei wie dem vorliegenden Tuanima-Test, historische Porträts von Paracelsus und Kopernikus, die auf der Jahrhundertfeier in Salzburg (1941) bzw. Königsberg (1942) als einzige moderne Arbeiten ausgestellt waren.

Über die Entstehung seines Tuanima-Tests schreibt er selbst: „Als Arzt, Maler und Musiker lebte ich acht Jahre im Fernen Osten und lernte die Wahrheit der Behauptung von Lily Abegg kennen: “Ostasien denkt anders.“ Die Ursache diese verschiedenen Bewusstseinslage ist wohl in der Symbolstärke des Asiaten zu suchen, der noch tief in einer archaisch magischen Welt wurzelt, die nicht so streng von der mentalen Ebene isoliert wird, wie das im Abendland der Fall ist. Meine asiatischen Erlebnisse waren also die Ursache von einer besonderen Beurteilung der gegenstandslosen Malerei bei ihrer Wiedereinführung im Sommer 1945. Meine Untersuchungen galten dem Problem, ob wenigstens ein Teil der gegenstandslosen Bilder einem echten Symbolgehalt entsprechen könnte oder nur durch rein mentale, also gedankliche Konstruktionen entstanden ist. Ich versuchte, durch intensive meditative Einstellung auf Symbole, Bilder hervorzubringen, um dann zu kontrollieren, ob sie auch von anderen als dem Symbol entsprechend erkannt wurden…

Ausgangspunkt dieses Tests war die Beschäftigung des Verfassers mit der
Problematik und Psychologie der gegenstandslosen Malerei. Dr. Heinrich Reich war während seines jahrelangen Aufenthaltes im Fernen Osten die Ausdruckskraft altchinesischer Schriftzeichen aufgefallen, und er wurde dadurch, als er wieder nach Europa kam angeregt, die moderne abstrakte Malerei auf etwaige symbolische Inhalte zu untersuchen. Im Chinesischen wie im Japanischen handelt es sich um Bildersprachen, wobei das Japanische noch ein zweites, phonetisches Schriftsystem besitzt (Kana). Dies ist im Hinblick auf Unterschiede in der neuropsychologischen Informationsverarbeitung der Bilderschrift (Kandschi) und dem phonetischen Schriftsystem (Kana) von Interesse!

Erkenntnisse der Neuropsychologie

Untersuchungen an japanischen Aphatikern haben einige interessante Unterschiede in der Strategie angedeutet, mit der diese zwei Typen von sprachlichen Symbolen im Gehirn verarbeitet werde. Es konnte gezeigt werden, dass viele Patienten speziell in der Verarbeitung von Kana Zeichen Ausfälle aufwiesen, während ihre Fähigkeit, Kandschi-Symbole zu verarbeiten, relativ gut erhalten oder sogar nahezu intakt war. Eine Analyse der Fehler, die Aphatiker machen, lässt vermuten, dass bei den beiden Schriftzeichentypen verschiedene Strategien angewandt werden: eine visuellbildhafte Verarbeitung bei Kandschi und eine phonologische oder klanggebundene Verarbeitung bei Kana, wobei diese beiden Verarbeitungsstrategien hemisphärenspezifisch lateralisiert sind. Dies nur als Hinweis dazu, dass Zeichen bzw. Symbolsysteme auch mit dem entsprechenden “Hirn“ gelesen bzw. verarbeitet werden.

Die moderne Kunst zeigt auch eine besondere Vorliebe für die “Primitiven“, für das Archaische und Exotische; dies beruht zu einem nicht geringen Teil auf Anleihen bei altchinesischen, peruanischen Bilderschriften, bei den Tausende Jahre alten Höhlenbildern aus Altamira und den Negerplastiken aus Zentralafrika. In einer Zeichensprache wie dem Chinesischen oder auch der altgermanischen Sprache der
Runen sind Gestalt und Sprache noch weitgehend eins, so dass die Verständigung, die Kommunikation, neben dem über das Ohr wirkenden Laut auch visuell das anschauliche Zeichen dem Auge sich darbietet. Sozusagen als Nebenprodukt des Versuchs verschiedene Begriffe wie z.B. das Männliche (Symbol: Mars), das Weibliche (Symbol: Venus), das Freischwingende, Ungehemmte (Symbol: Dreieck) oder das Eingeengte, Gespannte (Symbol: Quadrat) bildlich abstrakt darzustellen entstand der sogenannte Tuanima – oder Reich – Test der als „Evokations-Verfahren“ bei einem Probanden bestimmte Reaktionen hervorruft. Da die Versuchsperson zunächst nur das gegenstandslose Bild sieht, wirkt diese als Auslösung einer seelischen Empfindung, die zur Zustimmung oder Ablehnung führt oder die Versuchsperson unberührt lässt. Das hat den großen Vorteil, dass der Proband weder deuten muss, wie etwa beim Rorschach Test, noch um den Symbolinhalt der Karte weiß.

“Nicht das Sprechen, sondern die Gestalt ist die Hauptsache, nicht die Deutung
durch den Probanden, sondern seine Beziehung zu einer Gestalt ist
ausschlaggebend.

Zur Bedeutung von Persönlichkeitsfaktoren

Max J. Kobbert diskutiert in seinem Buch “Kunstpsychologie“ auch die Bedeutung von Persönlichkeitsfaktoren, “die sich in verschiedenen Grundtypen des Kunstgenießens konstellieren; wie z. B. Müller-Freienfels (1923) den Sensoriker, Motoriker, Imaginativen, Reflektierenden, Emotionalen, Kompensationstypen Adlerscher Prägung und Mischtypen. Unter Bezug auf Faktoren wie “extravertiert und introvertiert“, “stabil und labil“, kommen Cyril Burt (1939) und auf ihn sich berufend Jean Cardinet (1958) anhand unterschiedlichen Bildmaterials und unterschiedlicher Persönlichkeitstests zu Ergebnissen, die sich zum großen Teil gegenseitig stützen und ergänzen. Verallgemeinernd lässt sich sagen, dass die Charakteristik der bevorzugten Bilder nach Gesichtspunkten wie Ordnungsgrad, Ausdrucksstärke oder Bewegtheit im Allgemeinen gut mit den Eigenschaften übereinstimmen, mit denen die jeweiligen Persönlichkeitsfaktoren bzw.-typen gekennzeichnet werden.

Zur abstrakten bildlichen Darstellung von Begriffen

Rudolf Arnheim zeigt im “Anschaulichen Denken“, dass bildliche Darstellungen gute Werkzeuge für das abstrakte Denken sein können. Ausgehend von der Gebärdensprache, die sich “in intelligenter Weise auf das beschränkt worauf es ankommt“, geht er über zu den “Bildern, die nicht in der Luft geschrieben sind“, sondern eine dauerhafte Spur hinterlassen und berichtet von Experimenten über die bildnerische Darstellung von Begriffen, wie z.B. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, Demokratie, Ehe, Jugend etc. Auch Anne Homberg beschreibt in ihrem Artikel “über die abstrakte bildliche Darstellung einiger Grundbegriffe“16 den Versuch innerhalb definierter Randbedingungen zehn Versuchspersonen farbige Zeichnungen zu den Faktoren Bewertung (gut-schlecht), Potenz (stark-schwach) und Aktivität (aktiv-passiv) zeichnen zu lassen, um dadurch einem Farb- und Formsprach-ABC näher zu
kommen. Ausgehend von den Zitaten von Goethe: “Die Erfahrung lehrt uns, dass jede Farbe eine bestimmte Wirkung auf den Zustand des Geistes hat“; von Kandinsky: “Jede Form hat eine innere Bedeutung“; und Arnheim: “Auch völlig abstrakte Bilder können Symbolfunktionen erfüllen“ über die Archetypenlehre Jungs sowie den Erkenntnissen der Graphologie und der projektiven Tests sowie der Raumsymbolik bis hin zur Synästhesie-Forschung und die Untersuchungen über einen “semantic space“ fasste sie die Hauptfragestellungen all dieser Forschungen wie folgt zusammen:

  1. Besitzen Linie, Form und Farbe eine konstante und autonome psychologische
    Bedeutung, und wenn ja, wie ist sie geartet?
  2. Können psychische Inhalte – von klar definierten Begriffen bis hin zu schwer
    verbalisierbaren Gemütszuständen – in einer abstrakten Form- und
    Farbsprache dargestellt werden?
  3. Eine dritte Fragestellung befasst sich mit dem “anschaulichen Denken“ und
    untersucht den Zusammenhang zwischen bildlicher Vorstellung und
    Ausarbeitung von Gedanken: Was verrät die abstrakte Darstellung eines
    Begriffs über die Auffassung, die eine bestimmte Kultur (oder ein bestimmtes
    Individuum) von diesem Begriff hat?

Die Zeichnungen wurden nach objektiv messbaren Kriterien wie z.B. Häufigkeit der Farben oder räumliche Lage, Anordnung oder Bewegungsrichtung der Form ausgewertet und ausführlich diskutiert. Als einzelnes Beispiel sei herausgegriffen, dass die guten Formen viele der Eigenschaften der von der Gestaltpsychologie beschriebenen “guten“ Gestalt aufweisen. Die guten Gestalten zeichnen sich durch Regelmäßigkeit, Symmetrie, Einheitlichkeit, Harmonie, maximale Einfachheit und Prägnanz aus. Auch Kreitler & Kreitler weisen in ihrem Buch „“Psychologie der Kunst“ darauf hin, dass einige Formbedeutungen von Menschen verschiedener Kulturen und verschiedenen historischen Zeitabschnitten geteilt werden und stellen auch die Frage nach den Determinanten dieser Bedeutungen. Eine von psychologisch orientierten Kunsttheoretikern bevorzugte Theorie versucht diese Bedeutungen in Archetypen zu verankern. Archetypen, die nach Jung genetisch ererbt werden und auch mit grundlegenden und immer wieder auftretenden menschlichen Erlebnissen physikalischer, sozialer und möglicherweise kosmischer Natur in Verbindung stehen und in einer Art “Rassengedächtnis“ begründet sind. An dieser Stelle verweisen Kreitler & Kreitler auch auf die synästhetische Wahrnehmun.

Synästesie: beim Erleben einer Farbform werden assoziativ und direkt die Inhalte anderer Sinnesorgane mitangeregt, wobei sich deren Erlebnisinhalte mit den rein visuellen zu einem Gesamterleben verschmelzen. Karwoski et al. (1942) zeigten, dass viele Menschen große, dicke, winkelige, aufwärtsgerichtete und deutliche Formen als der Lautstärke in der Musik entsprechend betrachten, während sie kleine, dünne, eckige, und geradlinige Formen als Äquivalent zu schneller Musik ansehen. Einer der legendären Versuche einen Brückenschlag zwischen Malerei und Musik zu wagen, war die Zusammenarbeit zwischen Wassily Kandinsky und dem Komponisten Thomas de Hartmann in München kurz vor dem Ersten Weltkrieg. “Der Gelbe Klang“, eine “Farben-Oper“ im Sinne eines Gesamtkunstwerks war der Versuch Tanz, Theater, Malerei und Musik vollkommen aufeinander abzustimmen. Zusammenfassend stellt Kandinsky fest: ”Im Allgemeinen ist also die Farbe ein Mittel, einen direkten Einfluss auf die Seele auszuüben. Die Farbe ist die Taste. Das Auge der Hammer. Die Seele ist das Klavier mit vielen Seiten. Der Künstler ist die Hand, die durch diese oder jene Taste zweckmäßig die menschliche Seele in Vibration bringt. So ist es klar, dass die Farbenharmonie nur auf dem Prinzip der zweckmäßigen Berührung der menschlichen Seele ruhen muss. Diese Basis soll als Prinzip der inneren Notwendigkeit bezeichnet werden.“ Welche Saiten beim Betrachter eines Bildes erklingen ist jedoch wieder weitgehend von ihm selbst abhängig. Beim Tuanima-Test kürt der Proband nach Maßgabe der jeweiligen affektiven Besetzung das entsprechende Thema selbst. Holger Höge berichtet in einem Beitrag “Bildwahrnehmung und ästhetisches Erleben“26 über ein Experiment zur Rolle der Emotionen im Informationsverarbeitungsprozess:

Zwei Gruppen von Versuchspersonen wurden durch jeweils unterschiedliche Manipulation in verschiedene Stimmungen versetzt. Eine Gruppe befand sich in gehobener Stimmung, während die andere deprimierte Stimmung aufwies. Beiden Stichproben wurden nun dieselben fünfzehn Gemälde gezeigt, zu denen sie anschließend ihre Assoziationen auf ein Tonband sprechen sollten. Die Auswertung zeigt, dass sich die Art der Assoziationen deutlich unterscheidet, je nachdem unter welcher Stimmungsbedingung die Versuchsperson stand. Höge meint, dass man mit einem solchen Vorgehen nachweisen kann, dass die Bedeutung eines Bildes nicht durch die reizabhängigen Informationen ein für allemal festgelegt ist, sondern dass diese Bedeutung als Mischung von Informationen, die außerhalb des Subjektes liegen und Informationen, die innerhalb des Subjektes verfügbar sind, erst generiert
wird; d.h. unter Verwendung beider Informationsarten wird eine neue, zuvor nicht dagewesene Information geschaffen, und dies ist die kreative Leistung des Rezipienten im Vorgang der Rezeption. Rudolf Arnheim betont in seinem Beitrag “Abbilder als Mitteilung“ wiederholt, dass die Wahrnehmung kein bloßes passives Empfangen, sondern immer schon ein aktives Begreifen ist und zitiert Spinoza, der am Anfang des zweiten Teils seiner Ethik “Idee“ als einen Begriff der Seele definiert und dazu erläutert, er sage lieber “Begriff“ (conceptus) als “Wahrnehmung“ (perceptio), weil das Wort Wahrnehmung anzudeuten scheint, dass “die Seele vom Objekt leide, wogegen Begriff eine Tätigkeit der Seele ausdrückt“. Im Reich-Test wird der Proband gebeten den jeweiligen Spitzenreiter, (die affektiv gut/böse stärkst besetzten Bilder) in einem Malversuch, nach kurzer, nochmaliger Darbietung aus dem Gedächtnis zu malen.

“Beim Abbilden geht es um die Fähigkeit des Menschen, der Welt der Dinge aus eigenen Willen eine zweite Welt entgegenzusetzen, in der er sich sozusagen für die erste revanchiert, sie aufbewahrt, erkundet und nach Wunsch verändert. Diese der bloßen Wahrnehmung und Erinnerung gegenübergestellte zweite Welt des Geistes ist das Sonderrecht des Menschen. Es macht ihn zum homo pictor, zum Schöpfer von Abbildungen. Als eine Übersetzung des Geistigen in körperlich Sichtbares wird das visuelle Abbild zu einem Hauptmittel der Symbolik. Symbolik macht das Gedachte anschaulich.“

Das Ergebnis des Malversuchs wird dann im Hinblick der verwendeten Leitfarben, der bevorzugten Formen, Weglassungen und Hinzufügungen sowie auch gewisser Kriterien der Raumsymbolik interpretiert. “Raumsymbolische Kriterien gewichten die jeweiligen Bildinhalte in der Raumanordnung und Aktionsrichtung nach qualitativen Gesichtspunkten wie regressiv – progressiv, passiv – aktiv, der Vergangenheit ausgerichtet etc. Es ist ein leicht zu handhabender Parameter, der aber wichtige qualitative Einschätzungen der Bildinhalte ermöglicht.“ Gestalterfassung und visuelle Informationsverarbeitung sind funktionell eng an die rechte Hemisphäre gebunden. Aus der jüngsten neuropsychiatrischen Forschung (Flor-Henry, P.) ist zu entnehmen, dass verschiedene Formen der Depression auf eine Funktionsstörung der rechten Hemisphäre zurückzuführen sind. So nimmt es nicht weiter wunder, dass gestalterische oder bildnerische Verfahren sowohl als Therapeutikum als auch Diagnostikum einen sehr guten Zugang zur Depression
schaffen (s. Reiter). Absicht der Arbeit war es, den anregenden Versuch Heinrich Reichs, abstrakte Farbform-Bildnereien zu bestimmten archetypischen Themen zu entwerfen, darzustellen und auf die vielfältigen Probleme dieses Versuches, die sich in so verschiedene Gebiete wie die Psychologie, Physiologie, Ästhetik, Philosophie, Kunst etc. verzweigen, und deren fruchtbares Zusammenwirken hinzuweisen.


Literaturnachweise

GOODMAN, Nelson: Kunst und Erkenntnis. in: Theorien der Kunst; hrsg. v. Dieter
Henrich und Wolfgang Iser. Suhrkamp, 1984
KREITLER, Hans, KREITLER, Shulamith: Psychologie der Kunst. Kohlhammer, 1980.
GROPIUS, Walter: Architektur. Fischer-Bücherei, Band 127.
LÜSCHER, Max: Psychologie der Farben. Basel 1949.
SEDLMAYR, Hans: Die Revolution der modernen Kunst. Rowohlts Deutsche
Enzyklopädie, Band 1.
REICH, Heinrich: Seelenbilder – Lehrbuch des TUA-Testverfahrens und einer experimentellen Malerei. Rascher Verlag, Zürich 1960.
SPRINGER, Sally P.: Georg DEUTSCH (Hrsg.): Linkes Rechtes Gehirn, Funktionelle Asymmetrien. Spektrum der Wissenschaften, 1984.
KOBBERT, Max J.: Kunstpsychologie – Kunstwerk, Künstler und Betrachter. Darmstadt 1986.
ARNHEIM, Rudolf: Anschauliches Denken – Zur Einheit von Bild und Begriff. Köln 1972.
HOMBERG, Anna: Über die abstrakte bildliche Darstellung einiger Grundbegriffe. In: Kunst & Therapie; Bd.9: Psychologie und Kunsttherapie.
KANDINSKY, Wassily: Über das Geistige in der Kunst. Bern, 1965.
BAKER, Rob: Hearing the sound of color. Parabola VII, 1982,2, S 92-95.
SCHUSTER, Martin; Bernhard P. Woschek (Hrsg): Nonverbale Kommunikation durch Bilder. Hogrefe 1989.
REITER, Alfons: Bildnerischer Ausdruck als methodischer, diagnostischer und therapeutischer Zugang zur Depression. Habilitationsschrift, Salzburg 1985.
FLOR-HENRY, Pierre: Hemispheric Laterality and Disorders of Affect. In: Neurobiology of Mood Disorders. Ed. Robert M. Post & James C. Ballenger. London 1986